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Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd

 
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Anmeldungsdatum: 29.04.2008
Beiträge: 211

BeitragVerfasst am: 26 Nov 2010 00:54    Titel: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd Antworten mit Zitat

Eine der jüngsten Erweiterungen der Filmedition Suhrkamp mit kleinem Kommentar von mir.

Es ist nun schon langsam zu einer schönen Tradition geworden, jedes Jahr einen neuen Film von Alexander Kluge in der Filmedition Suhrkamp veröffentlicht zu sehen. Streng genommen, handelt es sich bei Nachrichten aus der ideologischen Antike, Früchte des Vertrauens und Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd nicht um stringente und zentrierte Werke, sondern um Ansammlungen von einzelnen Gedankensplittern, die einer groben Thematik untergeordnet sind und ein monadologisches Eigenleben führen. Sein neuester Film beschäftigt sich, wie aus dem Klappentext ersichtlich, mit dem gesellschaftlichen Phänomen der zwischenmenschlichen Kälte, wie es bereits Kluges Mentor Adorno in seinem Werk dargelegt hat. Allerdings beschränkt sich der Film nicht auf eine Untersuchung gerade dieser modernen Erscheinung, sondern dekonstruiert sozusagen phänomenologisch den Begriff Kälte und findet wieder viele erhellende Anekdoten und Sinnbilder, wie einen schmelzenden Eiszapfen, der das Himmelsgestirn an seiner Spitze reflektiert oder den namensgebenden Reiter der Apokalypse, der ohne seine drei Gefährten vom Pferd gerissen werden kann. Die dreißig kurzen Beiträge konstituieren, wie zu erwarten ist, keinen schlüssigen Begriff, der sich am Ende zu der ursprünglichen Thematik fügen würde, zurück bleibt ein Feld voll zerschlagener, verstreuter und geöffneter Teile, die jetzt jedes einzeln betrachtet Sinn in alle Richtungen stiften. Wenn zum Beispiel Helge Schneider als reisender Schriftsteller vom Nordpol von seinen Erfahrungen in der Kälte erzählt, oder der russische Polarforscher Artur Tschilingarow vor Lungenschäden bei minus 80°C warnt, dann kann man etwa einen Bezug zur von Adorno beschriebenen Entfremdung herstellen, die Kälte erzeugt, indem sie Menschen sich vereinzeln lässt, wobei derlei assoziative Beziehungen immer kontingent sind. Auch zu der klirrenden Kälte, dieser akustischen Wendung, stellt Kluge einen Bezug: Helmut Lachenmann, der über die kaum hörbaren und scheinbar klandestinen Klangbereiche des Alltags spricht, und auch darüber, wie man einer Glocke ein rein klirrendes Geräusch entlocken kann. Neben den Aufnahmen von Eislandschaften aller Art, die immer wieder kleine Interludien bilden, wird die Kälte auch als Modus des Denkens vorgestellt: Descartes, der Anfang des 17.Jahrhunderts am Beginn der neuen Naturwissenschaft stand, isoliert inmitten des kalten Deutschlands, bildete ein rationales, kühles Denken aus, das, wie Durs Grünbein sagt, die strengste Form von Aberglauben sein könnte. Das eisig Kalte partizipiert an der Literatur: in Andersens Märchen Die Schneekönigen finden sich die ersten entfremdenden Wirkungen der Kälte als Eissplitter in Herz und Auge der Hauptfigur Kai, die über den Einbruch der rationalen Vernunft den Blick für das Schöne und Poetische verliert. In der kleinen europäischen Eiszeit, die in England die Themse so klar zufrieren ließ, dass versunkene Schiffe auf ihrem Grund gesehen werden konnten, und in Frankreich, wo ein extrem kalter Winter einen extrem heißen Sommer folgen ließ, greift die Kälte auf fatalistische Weise in den Alltag ein, um Mythen, Legenden und auch teure Preise zu erzeugen. Im letzten Viertel wird das Eis unter die Lupe genommen, von Geologen in seine Unterarten zerlegt, und stellt als Eiswelttheorie des österreichischen Ingenieurs Hanns Hörbiger eine Affinität zur Kälte des Gedanks her, wenn Rüdiger Sünner ihren Gebrauch in der Ideologie des dritten Reiches auführt.
Das der DVD beiliegende Booklet enthält vierzig Kurzgeschichten, die von einzelnen Ereignissen erzählen, die, mal fabulierend, mal berichtend, wunderbar mit den bewegten Bildern korrelieren und sich, wie die Geschichte der neun Kinder, die trotz Warnung zur Schule gehen und auf dem Rückweg im Schneesturm erfrieren, teilweise mit jenen überschneiden. Passend also zum Winterbeginn stellt Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd ein paar neue Bilder zum kalten Treiben bereit, die man sich beim nächsten Winterspaziergang ruhig mal ins Gedächtnis rufen sollte.
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Dr. Strangelove



Anmeldungsdatum: 02.08.2005
Beiträge: 1806

BeitragVerfasst am: 26 Nov 2010 08:19    Titel: Antworten mit Zitat

Wieder eine sehr schöne Zusammenfassung. Ich habe mich allerdings gefragt, welcher Film wohl herausgekommen wäre, hätte Axel Adornos wunsch nach einem solchen Film über Kälte nicht erst heute in seiner essayistischen Phase, sondern in der Spielfilmzeit um ABSCHIED VON GESTERN umgsetzt.
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Anmeldungsdatum: 29.04.2008
Beiträge: 211

BeitragVerfasst am: 26 Nov 2010 17:28    Titel: Antworten mit Zitat

Ich denke, das hat er zumindest teilweise schon. Auch Kluges Spielfilme sind voll von Geschichten, die im Zeichen der Kälte standen, oder die Dehumanisierung (man verzeihe mir das Wort) zum Austrug brachten, zum Beispiel im Film "Abschied von gestern", dessen Hauptfigur gerade aufgrund des Eindrucks von Entfremdung ein nomadisches und kriminelles Leben führt. So gesehen, ist die Thematik hier nicht vollkommen neu, sondern anders aufgelöst und abstrahiert.
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