helmi

Anmeldungsdatum: 10.03.2005 Beiträge: 2820 Wohnort: Hall of the incredible macro Knight
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Verfasst am: 16 Jul 2009 09:34 Titel: |
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hier noch ein gespräch mit Marco Bechis über den film:
Kampf zweier Welten artikel / interview
Gespräch mit Marco Bechis über „Birdwatchers“
Wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrem Film?
Bechis: Ich wurde in Chile geboren, wuchs in Argentinien auf und lebte auch einige Zeit in Brasilien. Für jeden Menschen, der in Südamerika geboren ist und über ein Minimum an kritischem Bewusstsein verfügt, ist das Problem der Indigenen virulent. Ihnen gehörte das Land, bevor die Conquista kam. In der Schule haben wir nichts über deren Geschichte erfahren; man sprach einfach nicht darüber. Die „Indianerfrage“ war vom Beginn meiner Arbeit an ein zentrales Anliegen. Die Frage war nur: Was für einen Film sollte und wollte ich drehen? Es ging mir immer um den Völkermord, aber ich wollte eher wissen: Was ist heute von diesem Völkermord geblieben? Ich wollte mit den wenigen Überlebenden eines lang andauernden Völkermords arbeiten, das war mein Ausgangspunkt. Während meiner Reisen entdeckte ich das Potenzial der Geschichte, denn die Indianer, die ich kennen lernte, sahen nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Das merkt man an der Eröffnungssequenz von „Birdwatchers“, wenn Sie alle Erwartungen unterlaufen.
Bechis: Die Indigenen versuchen, eine tiefe Verbundenheit mit dem Land aufrecht zu erhalten. Nach unserem Verständnis ist dieses Land, das von der industriellen Agrikultur gezeichnet ist, für sie völlig nutzlos. Es gibt dort keine Tiere und auch keinen Dschungel mehr. Aber ihre Tradition verleiht ihnen die Stärke, sich ihren Besitz trotzdem zu nehmen. Einer sagte mir: „Wir essen keine Bäume, wir wollen nur zurück an unseren Ort.“ Man kann sagen, dass sie nicht mit dem Augensinn an ihren Ort gebunden sind, sondern abstrakter, spiritueller. Davon wollte ich erzählen, aber in einem ganz und gar zeitgenössischen Rahmen.
Sie haben mit Laiendarstellern gearbeitet?
Bechis: Als ich die Indigenen besser kennen lernte und eine Weile mit ihnen lebte, stellte ich schnell fest, dass sie fantastische Schauspieler sind. Ihre Kultur ist eine orale Kultur, ihre Tradition wird mündlich überliefert. Sie besitzen ganz erstaunliche rhetorische Fertigkeiten. Wenn man ihren rhetorischen Umgang mit Autoritäten erlebt, erkennt man, dass man es mit Schauspielern im besten Sinne zu tun hat.
Gab es bei der Arbeit mit ihnen keine Probleme?
Bechis: Doch, natürlich! Sie sind zwar begnadete Schauspieler, wissen aber nicht, was Kino ist. Es brauchte sechs Monaten Vorbereitungszeit, um sie für den kinematografischen Kampf zu präparieren. Es war ein Kampf zweier Welten – hier die Indigenen und ihre Welt, dort die Weißen und ihre Kameras.
Kommen wir auf die Eingangssequenz zu sprechen. In einer weitgehend von einer extensiven Agrikultur geprägten Landschaft sind einige Reste des Dschungel für den Tourismus bewahrt worden. Wenn Touristen den Fluss befahren, schlägt die Stunde der Indigenen. Sie verdienen sich etwas Geld, wenn sie die Imagination der Touristen bedienen. Wenn sie sich nach getaner Arbeit umziehen, befindet sich der Zuschauer unvermittelt in der Position des „Birdwatchers“, oder?
Bechis: Exakt. Wir lieben es, Indianer zu imaginieren. In der Realität lassen die Indigenen aber jeden romantischen Aspekt vermissen. Es mag sentimentale Aspekte geben, aber offensichtlich fügen sich die Indigenen nicht in die Imagination. Der Filmanfang ist zugleich meine Idee, bevor ich anfing, das Projekt zu realisieren. Da war ich selbst ein „Birdwatcher“. Insofern ist der Film auch ein Dokument meines eigenen Erkenntnisprozesses. Andererseits richtet er sich an den Zuschauer und sagt: Okay, Du würdest gerne die Geschichte der Indianer in den Bäumen erzählt bekommen. Aber diese Geschichte bekommst Du nicht, Du bekommst die wahre Geschichte dahinter!
Beeindruckend sind die Stärke und das Selbstbewusstsein der Frauen in Ihrem Film.
Bechis: Es handelt sich um keine patriarchale Gesellschaft, wie man sieht. Ich habe das während meines Aufenthalts dort gelernt. Die Frauen haben eine Vorstellung von Sexualität, die sich von der unseren sehr unterscheidet. Ich wollte diese Differenz auf möglichst provokante Weise markieren. Was für uns vielleicht ein „dirty joke“ ist, ist für sie nur ein Witz.
Über weite Strecken scheinen die Indigenen fast „untouchable“. Sie agieren mit einer starken Gewissheit; der Farmer, dessen Land sie in Besitz nehmen, scheint dagegen lange Zeit fast ohnmächtig. Man denkt unwillkürlich an „Heaven’s Gate“ von Michael Cimino. Im Western geht es drastischer und unmissverständlicher zu.
Bechis: Auch mein Film ist strukturell ein Western, in dem es aber bereits „das Gesetz“ gibt. In Brasilien sind die Gesetze unmissverständlich, weil das Problem der Indigenen sehr präsent ist. Die Gesetze existieren, weil die Indigenen existieren. In Argentinien gibt es die Gesetze nicht, weil die Indigenen dort im vergangenen Jahrhundert ausgerottet wurden. Wenn ein Farmer sich, wie in meinem Film, für eine gewaltsame Lösung entscheidet, muss er mit dem Gesetz rechnen. Dass das so ist, macht die Beziehungen viel komplizierter. Der Farmer kann nicht sagen, was er denkt, nicht tun, was er will. „He acts not in the middle of nowhere!“ Auch, wenn es so aussehen mag. Mein Film spielt mitten in Brasilien. Dort ist das Zentrum des Agro-Business! Dort befindet sich die größte Soja-Produktion der Welt. Und genau dort sagen ein paar arme Indigene: „This is my land!“
Mutig!
Bechis: Wobei sie nicht viel Land beanspruchen. Die Herrschenden der Region verbreiten immer wieder die Information, dass die Indigenen das gesamte Land beanspruchen, aber das ist schlicht eine Lüge.
Es geht ja wohl auch um strukturelle Gewalt, denn offene Gewalt wird in Ihrem Filme kaum gezeigt. Wie ist die Szene zu bewerten, in der der verzweifelte Junge den Farmern Gewalt androht? Er wirkt doch eher hilflos.
Bechis: Es herrscht dort sehr viel Gewalt. In dieser Szene wollte ich eher zeigen, dass eine Basis zur Kommunikation fehlt. Es gibt keine Kommunikation, die einzige Möglichkeit, die bestehenden Konflikte zu lösen, besteht darin, den Indigenen ihr Land zurückzugeben. Einen Dialog zwischen den Kulturen kann man imaginieren, aber erst danach, nicht davor. Es gibt diese kleine Liebesgeschichte zwischen dem Jungen und dem weißen Mädchen; sie scheint ein Hoffnungsfunken, der am Schluss des Films aber ausgelöscht ist. Die Tradition reproduziert Gewaltverhältnisse. Er wird wohl ein Schamane und ein Führer wie sein Onkel werden; sie wird in die Fußstapfen ihres Vaters treten.
Eine letzte Frage gilt den Gespenstern, die die Figuren zu locken und zu bedrohen scheinen. Was hat es damit auf sich?
Bechis: Es existiert die Vorstellung, dass jeder Mensch zwei Seelen besitzt: eine soziale und eine spirituelle. Wenn ein Mensch stirbt, geht seine Seele an einen mythologischen Ort. Wenn ein Mensch aber Selbstmord begeht, kommt die Seele dort niemals an. Dann umschleicht diese ortlose Seele die Lebenden, die Freunde und Familienangehörigen, und versucht, diese gleichfalls zum Selbstmord zu überreden. Deshalb verhalten sich die Lebenden so zu den Körpern der Selbstmörder, wie es im Film zu sehen ist. Das scheint uns fremd, aber die Distanzierung von einem Selbstmörder geschieht aus Selbstschutz. Die Seele eines Selbstmörders stellt eine permanente Gefahr dar.
Das heißt aber doch, dass selbst die Seele eines Selbstmörders noch getrieben wird von der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die Idee der Gemeinschaft ist stärker als der Tod.
Bechis: Ich weiß nicht, ob sie eine Gemeinschaft von Gespenstern sein wollen. Sie wollen einfach nicht alleine sein. Deshalb dürfen die Hinterbliebenen auch nicht trauern, sondern müssen sich von den Selbstmördern klar und unmissverständlich lossagen.
Hinweis
„Birdwatchers“ von Mario Bechis startet am 16. Juli 2009 in den deutschen Kinos (Verleih: Pandora). Der Film wurde im FILM-DIENST bereits in Ausgabe fd 09/2009 (fd 39 266) anlässlich des Schweizer Kinostarts rezensiert.
gruss
helmut _________________ Der Mensch lässt sich grob in zwei Gruppen einteilen: in Katzenliebhaber und in vom Leben benachteiligte.
Francesco Terarca |
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