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Die Filme des Luis Buñuel
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4LOM
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BeitragVerfasst am: 07 Feb 2008 14:23    Titel: Antworten mit Zitat

Berliner Zeitung 07.02.08
Zitat:
Das obskure Auge der Bourgeoisie
Traumhaft: die Filme von Luis Buñuel

Julia Teichmann

So schön wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch" - dieser Satz des Schriftstellers Lautréamont trifft den Kern des Surrealismus, jener für die Epoche so bedeutsamen Avantgardebewegung der 1920er Jahre. Ihr Anliegen war es zusammenzubringen, was nicht zusammen gehört, um dann aus dieser absolut neuen Verbindung den Funken der Poesie zu schlagen und den Menschen aus seinem von der Gesellschaft verordneten, fantasie- und imaginationsfeindlichen Korsett zu befreien.

Dass dies auch heute noch funktioniert, davon kann man sich auf der diesjährigen Retrospektive der Berlinale überzeugen. Denn sie ist, nach Jahren der Beliebigkeit, endlich wieder einem Werk gewidmet - dem von Luis Buñuel, einem der größten Autoren der Filmgeschichte. Gleich die erste kinematografische Arbeit des 1983 verstorbenen Regisseurs, realisiert mit dem Geld seiner Mutter und entwickelt mit seinem Freund Salvador Dalí, setzte bei der Premiere im Jahr 1929 Maßstäbe: So etwas hatte man noch nie gesehen; dieser Schnitt mit der Rasierklinge durch ein Auge in "Der andalusische Hund" war ein - beabsichtigter - Schock, insbesondere da er mit dem romantischen Bild einer Wolke, die den Mond zerteilt, kombiniert wurde. Buñuel folgte eben dem Prinzip von "Regenschirm und Nähmaschine". Hier zeigte sich auch, dass das neue, begeistert begrüßte Medium Film wohl am besten geeignet war, die Utopie der Surrealisten (bewegtes) Bild werden zu lassen: Traum und Unterbewusstsein, so proklamierten sie, seien die bessere Realität.

Luis Buñuel hatte sich bei der Premiere von "Ein andalusischer Hund" in Paris die Taschen mit Steinen voll gestopft, um für etwaige Tumulte gewappnet zu sein, die er vor allem von den Surrealisten befürchtete: Sie hatten den von Jesuiten erzogenen Spanier Buñuel bis dato skeptisch beäugt. Doch Kritik und Publikum waren gleichermaßen begeistert von seinem Film, was ihn nun vor den Surrealisten und dem charismatischem Kopf der Bewegung André Breton erst recht verdächtig machte. Unter vielen anderen Anekdoten erzählt Buñuel auch diese in seiner Autobiografie "Mein letzter Seufzer"; es ist wohl eine der lesenswertesten und mit Sicherheit amüsantesten Autobiografien überhaupt. Eine gute Einführung in sein Werk und eine ausführliche Filmografie bietet auch der Katalog zur Retrospektive.

Buñuels nächster Film "Das goldene Zeitalter" provozierte 1930 schließlich doch einen Skandal: Er wurde verboten und durfte erst 50 Jahre später wieder öffentlich in Frankreich vorgeführt werden. Dieses Verbot verdankte sich unter anderem dem antiklerikalen und antibürgerlichen Gestus des Films. Es war keineswegs der letzte Konflikt mit der Zensur, und der Regisseur versuchte auch gar nicht erst, ihn zu vermeiden. Er verstand sich als ein "fanatischer Antifanatiker".

Neben Buñuels bekannteren frühen Filmen gibt es in der Retrospektive aber auch viel zu entdecken. Den Dokumentarfilm "Land ohne Brot" von 1933 etwa, in dem der Regisseur, Mitglied der kommunistischen Partei, ländliches Elend in Spanien zeigt, surrealistische Schockmomente inklusive. Außerdem ist das im mexikanischen Exil entstandene Werk zu sehen (vieles davon ist außerhalb von Gesamtschauen praktisch nicht zugänglich): darunter "Die Vergessenen" über Jugendliche in den Slums von Mexiko City, der in Cannes 1951 für die beste Regie ausgezeichnet wurde; und die großartige Studie eines frommen katholischen Sadisten in "Er"; sowie die aus unerfindlichen Gründen im Salon des Gastgebers gefangene Abendgesellschaft in "Der Würgeengel".

Das Spätwerk von Buñuel ist öfter zu sehen, dennoch schließt sich gerade im Rahmen einer Retrospektive auch hier mancher Bogen in einem von Eigenzitaten, Obsessionen und fetischisierten Objekten nur so wimmelnden Werk. So endet etwa Buñuels letzter Film "Dieses obskure Objekt der Begierde" mit der Paraphrase eines Gemäldes von Vermeer, der "Spitzenklöpplerin". Es war Dalís Lieblingsbild. In "Ein andalusischer Hund" taucht es als Abbildung in einem Buch auf.

Retrospektive in den Kinos Cinemaxx Potsdamer Platz, Zeughauskino, Deutsche Kinemathek.

Katalog: "Luis Buñuel. Essays, Daten, Dokumente", hrsg. von der Deutschen Kinemathek, Bertz + Fischer, 184 Seiten, 125 Fotos, gebunden, 22,90 Euro

Im Fernsehen zeigt 3sat die Reihe "Der Zauber des Surrealen: Luis Buñuel und die Folgen". Den Abschluss bildet die Dokumentation "Das letzte Drehbuch - Erinnerungen an Luis Buñuel".
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4LOM
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BeitragVerfasst am: 12 Feb 2008 12:25    Titel: Antworten mit Zitat

Frankfurter Rundschau 08.02.08:
Zitat:
Das Messer im Auge
VON DANIEL KOTHENSCHULTE

Klingen werden stumpf, Bilder nutzen sich ab. Dieses eine Messer aber wird es nie, und nicht diese eine Aufnahme: Es hilft nichts, den berühmten Schnitt durchs Auge, jene Szene aus Salvador Dalís und Luis Buñuels Kurzfilm "Der andalusische Hund" in der Montage eines wunderschönen Nachthimmels angekündigt zu sehen, der in der besten originalen Filmkopie im Frankfurter Deutschen Filminstitut tiefblau viragiert ist - es trifft einen doch immer wieder, gegen jedes Wissen, wie beim ersten Mal.

Die Berlinale ehrt mit ihrer traditionellen Retrospektive diesmal Luis Buñuel, den großen Bilderstürmer, erfreulicherweise ohne jeden äußerlichen Anlass. Andere Retrospektiven hatten der geballten Kraftanstrengung eines Filmfestivals bedurft. Doch Buñuels Werk ist leicht zu beschaffen. Sämtliche Regiearbeiten liegen in Deutschland in restaurierten Kopien vor, die für die legendäre Buñuel-Ausstellung der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle in den Neunziger Jahren angefertigt wurden. Dennoch muss jede Generation den Spanier, der seine Meisterwerke in Frankreich und Mexiko drehte und am Ende seines Lebens so angesehen war wie kaum ein anderer Filmkünstler seiner Zeit, für sich entdecken: In einer gerechten Welt verfügte jede Stadt ohnehin über eine Kinemathek, die es so wenig wagen würde, "Viridiana" oder "Belle de jour" vom Spielplan zu nehmen wie ein Kunstmuseum seine besten Schätze ins Depot verbannte.

Selbst falls man eine Seite der Buñuel'schen Revolution, den gesellschaftlichen Tabubruch, die gezielte Blasphemie, für überholt erklären würde, bleibt seine eigentliche Bedeutung unangefochten: Das Aufbegehren gegen die verordnete Vernunft konventioneller Kinodramaturgien. Schlimm genug, dass sich die Gesellschaft seit seinem Tod 1983 so wenig verändert hat, auch wenn sie inzwischen recht unempfindlich gegenüber sklandalösen Bildern wurde. Stünde der Meister noch einmal vor uns, er wäre wohl amüsiert darüber, wie unangefochten noch immer die Erzählkonventionen des klassischen Hollywoodkinos ihre Herrschaft fortsetzen. Schon Anfang der 30er Jahre als er sich als Angestellter von MGM ohne größere Pflichten seinen wöchentlichen Scheck abholte, strafte er seine Arbeitgeber mit Verachtung.
Dabei gehören zu Buñuels erstaunlichsten Filmen gerade jene mexikanischen Genrestücke, in denen man lange, oft sogar vergeblich auf einen "surrealen Augenblick" warten muss. Die Radikalität auch der obskuren "Buñuels" liegt gerade in der Verachtung für alle Rationalität diesseits des Traums. Die Illusion fuhr tatsächlich mit der Straßenbahn, wie in seinem gleichnamigen Ausflug in den Neorealismus. Dass diese ohne Fahrschein zu benutzen ist, erregt im Film den Unmut der Bourgeoisie. Aber auch die Cinephilen taten sich lange schwer, diese leichte Seite des Genies so einfach anzunehmen. Doch jeder Surrealist, der etwas auf sich hielt, nahm die Traumarbeit ernst. Buñuel verfilmte seine Träume freilich als Ausgeschlafener, messerscharf pointiert, so geschliffen formuliert wie seine Autobiographie, die im Deutschen den Titel "Mein letzter Seufzer" trägt.

Buñuel ist immer ein Vorbild, und gerade deshalb passt er so gut in dieses Festival mit all seiner Pädagogik, dem Talentcampus, der Debütfilmreihe und den Politfilmen im Wettbewerb. Es gibt keinen Filmstoff, der nicht von seinen Lehren profitierte: Etwa seine Verachtung gegenüber moralisch untadeligen Figuren - sie existierten für ihn einfach nicht. Oder dem "schönen Bild": Als der mexikanische Meisterkameramann Gabriel Figueroa eine Einstellung des Films "Nazarin" zur eigenen Zufriedenheit arrangiert hatte, komplett mit Bergmotiv, Wölkchen und Kaktus im Vordergrund, verkündete Buñuel: "Schön, und nun drehen wir die Kamera um, damit wir vorn diese vier Ziegen und den kahlen Hügel im Hintergrund sehen."

Eine Buñuel-Retrospektive sollte dieser Berlinale also nicht nur ein Sparstrumpf sein, sondern eine Außenstelle des Talentcampus: Ein Lehrgang gegenüber der wahren Zensur, dem Diktat der Konvention.

Die Buñuel-Retrospektive läuft bis 17. Juni. Das lesenswerte Begleitbuch (u.a. von FR-Autor Gerhard Midding) ist im Berliner Bertz +Fischer Verlag erschienen und kostet 22,90 Euro.
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Dr. Strangelove



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BeitragVerfasst am: 12 Feb 2008 12:56    Titel: Antworten mit Zitat

4LOM hat folgendes geschrieben:
Die Buñuel-Retrospektive läuft bis 17. Juni. Das lesenswerte Begleitbuch (u.a. von FR-Autor Gerhard Midding) ist im Berliner Bertz +Fischer Verlag erschienen und kostet 22,90 Euro.

Ich kann es nur empfehlen. Ein schön aufgemachtes Buch mit vielen Fotos, das zu jedem Film einige zeitgenössische Kritiken bietet. Ich finde zwar, dass es etwas ausführlicher hätte sein können und vieles nur angerissen wird, ein schöner Überblick vor allem für Bunuel-Einsteiger ist es aber trotzdem geworden.
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"Un artiste est toujours jeune" Jean-Marie Straub
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4LOM
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BeitragVerfasst am: 12 Feb 2008 19:35    Titel: Antworten mit Zitat

Freitag.de 08.02.08:

Zitat:
Georg Seeßlen
Zurück in die Zukunft

58. BERLINALE Anmerkungen zu den Filmen von Luis Buñuel, dem die Retrospektive der Filmfestspiele gewidmet ist

Fünf Jahrzehnte lang, etwa zwischen 1928 und 1978, hat der europäische Film, in Teilen wenigstens, nach Wegen gesucht, einen inneren und äußeren Zusammenhang mit den großen gedanklichen und ästhetischen Projekten der Moderne zu finden. Die waren dem Medium wie vernagelt, nicht allein wegen der Widersprüche zwischen Kunst und Kommerz oder denen zwischen Autorschaft und Industrie, kollektivem und individuellem Narrativ, in denen der Film sich nur entwickeln und derenthalben er zugleich zur Fortsetzung und zur Negation der alten bürgerlichen Künste werden konnte. Dabei schien doch alles so leicht, denn schließlich war das Kino das technisch und organisatorisch modernste Medium (was besonders Geschäftsleute und Diktatoren reizte). Und in seinen Anfängen brachte es doch Revolutionen, Manifeste und Theorien genug hervor: Griffith, Eisenstein, Pudovkin! Aber schon gegen Ende der zwanziger Jahre und erst recht nach dem Übergang zum Tonfilm schien der Elan der Moderne zu erlahmen. Hier wie dort begann das Kino offenbar mit einer Rückwärtserzählung, zurück nicht nur zum Melodrama und zum Vaudeville, zurück auch zur Legende und zum Mythos, zurück in die Genremalerei, zurück in massengefertigtes Kunsthandwerk, zurück zum Text und zur Konvention. Und nicht zuletzt: von der ersten Weltkunst zurück zu den nationalen Erzählungen (wenn auch für den Weltmarkt).

Nie hatte dieses Medium die Dynamik, so rasch einen Ismus auf den anderen folgen zu lassen, wie es in der bildenden Kunst geschah (bis jeder Künstler sein eigener Ismus wurde). Nie konnte das Kino sich so radikal auf die eigenen Mittel werfen, wie es die Literatur tat, die sich gar weigerte, weiter zu erzählen. Und noch der avantgardistischste Film kann es sich nicht leisten, so sehr mit dem Rücken zum Publikum zu spielen wie Miles Davis im Modern Jazz: als politische Geste einerseits und andrerseits, um der Musik einen Raum zu schaffen, der unabhängig vom Dialog und seinen Korruptionen ist. Das Lichtspiel leidet darunter, dass es verschwindet, wenn es versucht, dem Publikum den Rücken zuzukehren.

Freilich haben wir unsere Meister des modernen Kinos. Frederico Fellini, der den Traum zum Inhalt seiner Filme machte, und sein Widerpart, Ingmar Bergman, der dem Leitfaden des Begehrens den Leitfaden der Angst entgegensetzte. Michelangelo Antonioni, der auf eine schmerzhafte Weise den Existentialismus in Bilder übersetzte, und mehr noch in Leerstellen, Nicht-Bilder. Das cinema di denuncia, das aus dem Niedergang des Neorealismus seine aufklärerische Position bestimmte. Immer wieder neue Formen, ganz nahe an die Realität zu kommen, und immer wieder neue Formen, sie aus der Distanz zu erkennen. Godards Vorschlag, Filme politisch zu machen. Und doch: Jede Methode wird viel zu schnell zum Stil, und jeder Stil zu schnell zur Pose; vielleicht ist es nicht nur eine allgemeine Rückwärtswendung des Kinos (die Sehnsucht genau mit den modernsten Mitteln in die vormodernsten Traumreiche zurückzukehren, die noch heute das Blockbuster- und Genrekino bestimmt, digital oder nicht), sondern auch der rasche Verbrauch der kinematografischen Ideen, was das Kino und die Moderne so schwer zueinander finden lässt. So ist der Autor auch hier zugleich altmodisch und letzte Chance der Moderne. Luis Buñuel zum Beispiel.

Luis Buñuel versuchte es mit dem Surrealismus. Was natürlich vor allem damit zusammenhängt, dass der Surrealismus ihm selber die individuelle Befreiung gebracht hatte. In Aragonien, einer fruchtbaren, aber trockenen Gegend im Nordosten Spaniens, wo zwei Jahre vergehen können, ohne dass man am Himmel eine einzige Wolke sieht, wird Luis Buñuel am 22. Februar 1900 geboren. Knapp 5.000 Einwohner hat das Dorf, zwei Kirchen, sieben Pfarrer. Sein Vater ist als Kaufmann auf Kuba reich geworden, in Saragossa, der Hauptstadt Aragoniens, wohin man bald zieht, zählt die Familie zu den wohlhabendsten. Acht Jahre lang besucht Luis eine Jesuitenschule - strenge Disziplin, striktes Schweigen, ununterbrochene Überwachung -, später studiert er in Madrid Agronomie, Insektenkunde, schließlich Literatur und Philosophie. Mitte der zwanziger Jahre entdeckt er in Paris seine Begeisterung für das Kino, sammelt Erfahrungen als Assistent des Regisseurs Jean Epstein. Und er entdeckt den Surrealismus. Nicht nur als aufregende und provokante Kunstrichtung, sondern vor allem als Mittel einer Selbstschöpfung: "Ohne Frage haben die religiöse Erziehung und der Surrealismus ihre Merkmale in meinem ganzen Leben hinterlassen. Durch den Surrealismus bin ich darauf gekommen, dass das Leben einen ethischen Sinn hat, dem der Mensch sich nicht verschließen darf. Und durch den Surrealismus habe ich entdeckt, dass der Mensch nicht frei ist." An diese Worte muss man denken, wenn man verstehen will, dass Buñuel den Surrealismus nicht als Spiel, Provokation und Methode benutzt, sondern als ein politisches und philosophisches Programm.

Luis Buñuel und der Maler Salvador Dali, befreundet, seit sie gemeinsam in Madrid studierten, pflegten sich, wie es unter den Surrealisten üblich war, gegenseitig ihre Träume zu erzählen. Schließlich schlug Dali vor, daraus einen Film zu machen, und es entstand Un chien andalou (1929), ein Film, in dem in der Tat ungeheure Dinge vorkommen, allerdings kein andalusischer Hund. Die "einfache Regel", nach der das Drehbuch entstand: "Keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe, die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum." Kurzum: eine ziemlich radikale Form der cineastischen écriture automatique. Die Pariser Uraufführung des Films, organisiert von Man Ray und Luis Aragon, wurde ein prächtiger Skandal, aber auch ein großer Erfolg.

Un chien andalou war nicht ein surrealistischer Film, sondern der surrealistische Film, und mit der Einstellung der Rasierklinge, die durch das Auge einer Frau fährt, enthält er auch das radikalste Anti-Kinobild. Es ist vorweggeträumt das letzte Bild aller Kinematografie (und vielleicht muss schon von daher das Kino im Allgemeinen, aber auch Buñuel selber rückwärts erzählen). Schon da war klar, dass sich ein solches Unternehmen weder fortsetzen noch wiederholen ließ. Während der Vorbereitungen zu L´âge d´or (1930), der schon wesentlich mehr Struktur, und mit seinen heftigen Bildern von Skorpionen, Bischöfen, Banditen und Orgien gar plot aufweist, dessen Provokationen aber nicht mehr gar so irrational und automatisch daherkommen, zerstritten sich Buñuel und Dali heillos.

Mit der Kamera tief ins Unbewusste zu dringen, dorthin, wo sich Begehren und Religion, Liebe, Tod und Teufel treffen, war für Buñuel immer nur der eine Teil seiner Arbeit. Der andere bestand darin, auch was die äußere Wirklichkeit, was Macht und Ausbeutung in der Gesellschaft anbelangte, genau hinzusehen. Las Hurdes war dann eine große Überraschung. Ein Regisseur, der zuvor seine höchst subjektiven, erotischen und aggressiven Träume ohne Rücksicht auf Dramaturgie und Realität auf die Leinwand gebracht hatte, hielt die Kamera nun unbarmherzig genau auf das wirkliche Elend der Menschen im "Land ohne Brot": Las Hurdes, eine der vergessenen Regionen Spaniens - Menschen in fensterlosen Steinbaracken, Inzucht, Zwergenwuchs, Armut, Hunger. Ein dokumentarischer Filmessay, gedreht 1932, bald nach der Errichtung der Spanischen Republik. Nur durch den scheinbar kalten Kommentar und, später, durch die sanfte Musik von Brahms gab es so etwas wie eine Verfremdung. Vom reinen Surrealismus der Gruppe von Andé Breton und Max Ernst war das schon weit entfernt. Und dann vergingen 14 Jahre, bis Buñuel wieder einen Film drehte.

Blieben Buñuels Filme "surrealistisch", als er im mexikanischen Exil in einer mehr oder weniger funktionierenden Industrie arbeitete? Jedenfalls erlernte er noch einmal das Handwerk, definierte sich als Filmemacher neu, nicht nur als einen, der subversive Filme macht, sondern der auch auf subversive Art Filme macht. Der Film als Instrument der Poesie, wie er 1958 in einem Text in der mexikanischen Zeitschrift Universidad schrieb, das bedeutet "Befreiung, Subversion der Realität, Schwelle zur wunderbaren Welt des Unterbewussten, Nichtübereinstimmung mit der engstirnigen Gesellschaft, die uns umgibt". Diesem Programm, seiner Vorstellung von Surrealismus, blieb Buñuel weitgehend treu. In den Jahren zwischen 1946 und 1965 hat er in Mexiko 21 Filme gedreht, weit mehr als die Hälfte seines Œuvres. Manche davon sind zu Unrecht vergessen, jedenfalls ist es ein wenig irreführend, nur die vier "Meisterwerke" gelten zu lassen, Los Olvidados (1950), Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (1955), Nazarin (1959) und Der Würgeengel (1962). So hat er auch Literatur verfilmt (und es dann natürlich doch nicht getan), bei seinem Robinson Crusoe (1954), in dem man nur noch Spuren des Autors findet (und der Buñuel doch ans Herz gewachsen war); oder seiner Brontë-Variation in Abgründe der Leidenschaft (1953/54), die man zweifellos als eine Art der surrealistischen Übersteigerung eines bürgerlichen Stoffes ansehen kann. Vielleicht führt es zu nichts, in jeder Einstellung und in jeder Szene bei Buñuel das Subversive zu suchen, aber ein zweiter oder dritter Blick bei manchen seiner "konventionellen" Filme kann nicht schaden.

Was bleibt indes, sind die Filme, in denen Buñuel seine Kamera nicht so sehr auf einen Stoff, sondern nach unten oder nach oben richtet. Wenn er zeigt, wie Macht und Ohnmacht funktionieren, wenn er den Katholizismus und den Surrealismus aufeinander treffen lässt, in endlosen Kreisen und voller Selbstreferenzen und eingestandenen Wiederholungen, und wenn die Ablehnung von Rationalität und Psychologie auf einen Zustand der Herrschaft und der Form trifft, die selber weder Vernunft noch Seele haben. Seine Kamera ist immer da, wo sie nach dem Willen der weltlichen, geistlichen und familiären Macht nicht sein sollte. Es ist indes nicht ausgeschlossen, dass sie dabei nicht mehr als blödsinnige Spiele und leere Rituale sieht.

Belle de Jour (1966) ist zugleich Glücks- und Unglücksfall für den Regisseur und das Publikum. Es ist ein Glücksfall, weil der Film durch seinen Erfolg Buñuel in die Liga der europäischen "Meisterregisseure" zurück bringt, der immer Produzenten für seine Stoffe findet. Und es ist ein Unglücksfall, weil sein Surrealismus hier als zu elegant und hermetisch missverstanden werden konnte. Selbst die böseren Filme wie Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) und Das Phantom der Freiheit (1974) gelten nun schon als Kulturbesitz der Klasse, die er attackiert, Werbefilme der Dekadenz, und Buñuels Surrealismus scheint sich am obskuren Objekt seiner unermüdlichen Neugier zu entleeren. Er teilt das Schicksal der modernen Kunst, Dekoration und Beute zu werden.

Allerdings haben sich die Verhältnisse längst wieder geändert. Der postmoderne Film konnte den surrealistischen Ansatz auf einer neuen Ebene wieder aufnehmen. Während Buñuel noch zwischen Erzählung und Traum wechselt, seine surrealistische Ethik immer wieder neu erobern muss, vielleicht im Glauben, dass die "wunderbare Welt des Unterbewussten" tatsächlich schon Teil der Befreiung sei (und das surrealistische Kino also deswegen wahrhaft automatisch subversiv), ist man nun auf die andere Seite des Traums gelangt. In ein neues Gefängnis. Die Macht reicht tiefer, die Befreiung ist komplizierter, und Buñuels Erkenntnis hat dreißig Jahre nach seinem letzten Film mehr Gültigkeit denn je: "Keine der traditionellen Künste weist wie der Film ein so starkes Missverhältnis zwischen den Möglichkeiten, die sie in sich birgt, und ihrer Realisierung auf". Das Kino hat immerhin erkannt, dass es auf neue Weise rückwärts erzählen muss, um vorwärts zu kommen.

Es muss, unter anderem, diesen verdammten andalusischen Hund wiederfinden.
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Neophyte
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BeitragVerfasst am: 17 Feb 2008 16:29    Titel: Antworten mit Zitat

Auf der Berlinale gab es auch ein schönes Buch zu kaufen: Luis Buñuel: Sämtliche Filme, welches ich heute innerhalb von 3,5h verschlungen habe.


Und hier noch das Backcover welches den Meister bei der Arbeit zeigt, und auch als Menü in der engl. 8 DVD Box zu bestaunen ist:

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Dr. Strangelove



Anmeldungsdatum: 02.08.2005
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BeitragVerfasst am: 17 Feb 2008 17:16    Titel: Antworten mit Zitat

Das Taschen-Buch ist ja schon länger auf dem Markt und lohnt schon allein wegen der wunderbaren und seltenen Photographien.
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"Un artiste est toujours jeune" Jean-Marie Straub
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BeitragVerfasst am: 17 Feb 2008 21:54    Titel: Antworten mit Zitat

Das stimmt natürlich auch. Luis Buñuel sagt ja in dem Buch, das ein Psychoanalytiker ihm sagte, er sei nicht analysierbar Very Happy Desweiteren wird auch erwähnt das lediglich David Lynch eine ähnlich stark ausgefeilte Soundkulisse verwendet wie Luis Buñuel es u.a. in "Das goldene Zeitalter" getan hat. Smile
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Neophyte
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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 10:38    Titel: Antworten mit Zitat

Was ich bloß schade und ausgesprochen traurig fand, ist, das wir a) El Bruto verpasst haben, und b) nicht lange genug da waren um El Rio y la muerte sehen zu können. Wirklich zum heueln.
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Dr. Strangelove



Anmeldungsdatum: 02.08.2005
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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 11:02    Titel: Antworten mit Zitat

"El Bruto" gibt es auch auf DVD mit englischen Untertiteln. "El Río y la muerte" gibt es zwar als spanische oder als französische DVD, aber ohne dt./engl. Untertitel.
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"Un artiste est toujours jeune" Jean-Marie Straub
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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 12:01    Titel: Antworten mit Zitat

Dann kann ich auch gleich chinesisch gucken. Schon schlimm genug das ich Viridiana nur ohne UT kenne... Allerdings verfügt Viridiana auch über eine Bildsprache die jedwede UT überflüßig macht Very Happy
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Sebastian



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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 12:30    Titel: Antworten mit Zitat

Dr. Strangelove hat folgendes geschrieben:
"El Río y la muerte" gibt es zwar als spanische oder als französische DVD, aber ohne dt./engl. Untertitel.


Oder als mexikanische DVD mit engl. UT. Immer schön in diesen Thread schauen]. Außerdem gibt es erste Hinweise, daß Lionsgate die in Mexiko bei Alterfilms erschienen Filme als weitere günstige DoubleFeatures in den USA rausbringt. Hier ein hinweisendes Zitat aus dem Criterionforum:

FilmFanSea hat folgendes geschrieben:
According to the listings at Navarre, they've been assigned UPCs and the MSRP is ... get ready ... $9.98. For a double feature.

Los Olvidados / El Río y la muerte

La Ilusión viaja en tranvía / Nazarín

El Gran Calavera / La Hija del engaño

Release date for all three is 4/29/2008.

At $9.98 MSRP, I would expect transfers approaching 1950's kinescope quality. I think these must be cheap throwaways for the Latin market (witness the Spanish titles). But that begs the question of distribution rights. If Lionsgate indeed owns the US rights to the revered Los Olivdados and Nazarín, why not command a higher price for the cinephile market?

Puzzling.



Ach ja, "Der Fluß und der Tod" empfand ich nicht gerade als Bunuelsches Highlight...
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Neophyte
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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 12:34    Titel: Antworten mit Zitat

Klingt doch vielversprechend... Smile
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Der Mann mit dem Plan
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BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 19:04    Titel: Antworten mit Zitat

Sebastian hat folgendes geschrieben:
Ach ja, "Der Fluß und der Tod" empfand ich nicht gerade als Bunuelsches Highlight...


Im Gegenteil. Der schwächste Bunuel überhaupt möchte man meinen.
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Sebastian



Anmeldungsdatum: 03.03.2005
Beiträge: 540
Wohnort: Köln

BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 19:56    Titel: Antworten mit Zitat

Der Mann mit dem Plan hat folgendes geschrieben:
Sebastian hat folgendes geschrieben:
Ach ja, "Der Fluß und der Tod" empfand ich nicht gerade als Bunuelsches Highlight...


Im Gegenteil. Der schwächste Bunuel überhaupt möchte man meinen.


Für die Behauptung werd ich mir erst die restlichen ansehen (Heute schon fleißig das Don Quentin-Remake nachgeholt). Aber wo genau soll deine Aussage jetzt gegenteilig sein?
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Dr. Strangelove



Anmeldungsdatum: 02.08.2005
Beiträge: 1806

BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 20:57    Titel: Antworten mit Zitat

Sebastian hat folgendes geschrieben:
Heute schon fleißig das Don Quintin-Remake nachgeholt).

Und wie fandst du ihn? Ich hatte ja zuerst das Remake gesehen und dann das fürchterliche Original, das Buñuel zusammen mit einem anderen Regisseur gedreht hatte. "El hija del engano" hatte alles, was der steifen, abgedroschenen Erstverfilmung fehlte: Schwung, viel treffsicheren Humor, gutes Schauspiel, Heilige und Teufel... für mich definitiv DIE Buñuel-Entdeckung in letzter Zeit.
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"Un artiste est toujours jeune" Jean-Marie Straub
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Sebastian



Anmeldungsdatum: 03.03.2005
Beiträge: 540
Wohnort: Köln

BeitragVerfasst am: 19 Feb 2008 21:22    Titel: Antworten mit Zitat

Dr. Strangelove hat folgendes geschrieben:
Sebastian hat folgendes geschrieben:
Heute schon fleißig das Don Quintin-Remake nachgeholt).

Und wie fandst du ihn? Ich hatte ja zuerst das Remake gesehen und dann das fürchterliche Original, das Buñuel zusammen mit einem anderen Regisseur gedreht hatte. "El hija del engano" hatte alles, was der steifen, abgedroschenen Erstverfilmung fehlte: Schwung, viel treffsicheren Humor, gutes Schauspiel, Heilige und Teufel... für mich definitiv DIE Buñuel-Entdeckung in letzter Zeit.


Naja, ganz so überschwänglich sehe ich das nicht, es bleibt letztlich eine durchnittliche Bunuel-Mexiko-Romanverfilmung, die sicher seine Momente hatte (kurzzeitig kam mir der Gedanke, meinen Nicknamen in "Der mit der Olive" ändern zu lassen Rolling Eyes Laughing ) und im Gegensatz zur Verfilmung aus den 30ern auch als Film genießbar war. Beim "Original" (wenn man es denn so nennen will, die imdb listet noch einen Stummfilm von 1925) konnte ich mich höchstens über den Film, sprich die Steifigkeit und das unfreiwillig Slapstikhafte amüsieren. Als Teil des im Ganzen großartigen bunuelschen mexikanischen Gesamtwerk hat "hija del elgano" durchaus seine Berechtigung. Mein Favorit aus der letzten Tagen war klar "Pesthauch des Dschungels" gefolgt vom "Großen Lebemann".
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